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News für Wutbürger - so triggert „Ragebait“ Algorithmen und Kleinhirne
Man erlebt es jeden Tag, wenn man sich durch die Newsfeeds der sozialen Medien arbeitet. Es dauert nicht lange, da stolpert man über einen Beitrag, der einem die Halsschlagader anschwellen lässt und wenn man in die Kommentarspalte wechselt, stellt man fest, dass das hunderten Anderen offensichtlich ebenso geht. Da wird wild drauflosgeschrieben - und die Verfasser des Beitrags reiben sich die Hände. Von was reden wir da? Wir reden von Ragebait.
WTF ist "Ragebait"?
Das ist ein englischer Begriff, der sich aus den Wörtern "Rage" (Wut, Zorn) und "Bait" (Köder) zusammensetzt. Wir erinnern uns an "Clickbait", aber das ist ja fast schon wieder ein alter Hut. "Ragebait" hingegen ist gewissermaßen die Steigerung davon und es handelt sich dabei um Inhalte vor allem in sozialen Medien (Texte, Bilder, Videos, Überschriften), die bewusst darauf ausgelegt sind, bei den Nutzern starke negative Emotionen hervorzurufen – insbesondere Wut, Empörung, Frustration oder Entsetzen. Ziel ist es, eine emotionale Reaktion zu provozieren, die dann zu Interaktion führt.
Stellen Sie sich vor, Sie scrollen durch Ihren Feed und sehen eine Überschrift oder ein Bild, das Sie auf den ersten Blick schockiert, empört oder wütend macht, weil es eine extreme Meinung vertritt, eine offensichtliche Ungerechtigkeit darstellt oder schlichtweg provokant ist. Genau das ist Ragebait. Es spielt mit unseren menschlichen Emotionen und löst einen Reflex aus.
Wie funktioniert Ragebait?
Ragebait nutzt gleich mehrere psychologische Mechanismen, um die Aufmerksamkeit der Nutzer zu erregen und sie zur Interaktion zu bewegen:
Emotionale Auslösung
Der Inhalt ist so gestaltet, dass er einen unmittelbaren emotionalen Reiz setzt. Dies kann durch:
- Extrem polarisierende Aussagen: Eine bewusst überzogene oder einseitige Darstellung eines Themas, die kaum Widerspruch duldet.
- Provokation: Direkte Angriffe auf verbreitete Meinungen, Werte oder Überzeugungen.
- Falschinformationen oder Halbwahrheiten: Manchmal werden auch bewusst ungenaue oder irreführende Informationen gestreut, um Empörung zu schüren.
- Moralische Entrüstung: Inhalte, die moralische Prinzipien verletzen oder ethische Dilemmata aufwerfen.
- Personenbezogene Angriffe oder Verallgemeinerungen: Die Diffamierung bestimmter Gruppen oder Einzelpersonen.
Dabei ist Ragebait keinesfalls auf politische Ansichten oder Aussagen begrenzt. Das Anstacheln von wütenden Kommentaren oder "Stinksauer"-Smileys lässt sich in nahezu jeder Thematik beobachten, selbst Kochvideos triggern das Publikum inzwischen nicht mehr durch pfiffige Rezepte, sondern dadurch, das extrem billige, einfache oder schlichtweg falsche Zubereitungen gefilmt und publiziert werden. Es ist wie mit dem sprichwörtlichen Unfall am Straßenrand: Man will nicht hinsehen - aber man muss es.
Wenn dann Ragebait noch mit provozierenden Fakenews etwa aus Weltpolitik und/oder Migrationsthematik kombiniert wird, werden oftmals jegliche ethische Grenzen überschritten - der Pöbel tobt, die Analysewerkzeuge laufen heiß und die Werbeeinnahmen sprießen. Die Betreiber der großen Plattformen sehen das nicht ungern und schauen weg - schließlich profitieren sie am meisten von heftigen Interaktionen im Newsfeed.
Der Drang zur Reaktion
Wenn Menschen wütend oder empört sind, verspüren sie oft den Drang, ihre Meinung zu äußern, zu widersprechen, sich zu verteidigen oder andere zu warnen. Dieser Drang äußert sich in sozialen Medien durch:
- Kommentare: Nutzer schreiben wütende oder empörte Kommentare, teilen ihre Meinung, korrigieren oder widersprechen.
- Teilen (Shares): Inhalte werden geteilt, um andere auf die "Frechheit" oder "Absurdität" aufmerksam zu machen oder um sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren.
- Likes/Reactions: Auch wenn es sich um "Wut-Likes" handelt (z.B. der "Empört"-Emoji), zählt jede Reaktion als Interaktion.
- Klicks: Oft ist der Ragebait-Inhalt nur ein Teaser (z.B. eine Überschrift). Um den vollständigen Artikel oder das Video zu sehen, muss geklickt werden - oft gelangen die Leser dann auf externe Seiten und werden mit Werbung zugemüllt.
Wie trägt Ragebait zu Klicks, Traffic und Werbeeinnahmen bei?
Hier schließt sich der Kreis und die kommerzielle Absicht von Ragebait wird deutlich:
- Erhöhte Sichtbarkeit durch den Algorithmus: Soziale Medienplattformen (Facebook, X/Twitter, Instagram, TikTok etc.) sind darauf ausgelegt, Inhalte zu bevorzugen, die viel Interaktion erzeugen. Jeder Kommentar, jeder Share, jeder Like signalisiert dem Algorithmus: "Dieser Inhalt ist relevant und interessant!" Der Algorithmus verbreitet diesen Inhalt dann an noch mehr Nutzer, da er davon ausgeht, dass er Engagement fördert. Das führt zu einer exponentiellen Reichweite.
- Generierung von Klicks (wenn extern verlinkt): Wenn der Ragebait-Inhalt nur eine Überschrift oder ein Teaser ist, der auf einen externen Artikel oder ein Video verlinkt, führt die durch die Wut ausgelöste Neugier oder der Wunsch nach Aufklärung zu einem Klick auf den Link. Dies erhöht den Traffic auf der externen Website.
- Längere Verweildauer (Engagement): Die hitzigen Diskussionen in den Kommentarspalten führen dazu, dass Nutzer länger auf der Plattform verweilen, um die Debatte zu verfolgen oder sich aktiv daran zu beteiligen. Eine höhere Verweildauer ist für die Plattformen sehr wichtig, da sie mehr Gelegenheiten für das Ausspielen von Werbung bietet.
- Werbeeinnahmen: Mehr Sichtbarkeit, mehr Klicks und längere Verweildauer bedeuten:
- Mehr Augen auf die Werbung: Ob die Werbung direkt auf der sozialen Medienplattform oder auf der verlinkten Website ausgespielt wird – je mehr Nutzer den Inhalt sehen und mit ihm interagieren, desto mehr Gelegenheiten gibt es, ihnen Werbung zu präsentieren.
- Höhere Werbepreise: Werbetreibende zahlen mehr für Plattformen oder Websites, die eine hohe Reichweite, viel Traffic und engagierte Nutzer haben. Die durch Ragebait künstlich erzeugte hohe Interaktion lässt die Attraktivität für Werbetreibende steigen.
- Daten für personalisierte Werbung: Die Art der Interaktion (z.B. Kommentare zu bestimmten Themen) gibt den Plattformen auch Daten über die Interessen und Einstellungen der Nutzer. Diese Daten können genutzt werden, um noch zielgenauere und damit potenziell effektivere Werbung auszuspielen.
In letzter Zeit lässt sich häufig beobachten, dass auch "seriöse" Medien zunehmend auf Ragebait-Strategien setzen. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung, die sehr kritisch betrachtet werden und längst Reaktionen aus der Politik hervorgerufen haben sollte. Und da wird offensichtlich vor nichts zurückgeschreckt, das gezielte Einsetzen von Rechtschreibfehlern ist ein besonders perfides Beispiel dafür, wie um jeden Preis Reaktionen hervorgerufen werden sollen. Die Reputation der Medienhäuser scheint da keine Rolle mehr zu spielen. Die sogenannten etablierten Medien, die neben ihren Druckausgaben auch noch sozialmedial punkten wollen, haben da aber gleich mehrere, meist hausgemachte Probleme:
Die Dilemma der "Seriösen" Medien
Traditionelle, seriöse Medienhäuser stehen heute vor enormen Herausforderungen:
- Rückgang der Printauflagen: Die Leser wandern ins Digitale ab.
- Harte Konkurrenz: Neben anderen seriösen Medien konkurrieren sie mit einer Flut von Blogs, Influencern, und "alternativen" Nachrichtenquellen.
- Werbeerlöse im Sinkflug: Online-Werbung ist weniger lukrativ als Print, und die großen Tech-Konzerne (Google, Meta) dominieren den Werbemarkt.
- Das Aufmerksamkeitsdefizit: In einer überfluteten Informationslandschaft ist es extrem schwierig, die Aufmerksamkeit der Nutzer zu gewinnen und zu halten.
In diesem Umfeld sehen sich einige Redaktionen gezwungen, Strategien zu adaptieren, die ursprünglich aus weniger seriösen Ecken des Internets stammen, um schlichtweg zu überleben. Wenn Algorithmen Klicks und Interaktionen belohnen, entsteht ein starker Anreiz, genau das zu produzieren - und zu provozieren. Meist gelingt das schon durch das absichtliche Setzen von Rechtschreib- oder Grammatikfehlern.
Warum das gezielte Einsetzen von Rechtschreibfehlern so perfide ist
Das Setzen von Rechtschreib- oder Grammatikfehlern ist ein besonders niederträchtiges Beispiel für Ragebait, da es gleich mehrere psychologische Trigger bedient:
- Der "Klugscheißer"-Reflex: Viele Menschen fühlen sich intellektuell überlegen, wenn sie einen Fehler entdecken, und verspüren den Drang, diesen öffentlich zu korrigieren. Ein offensichtlicher Rechtschreibfehler, vor allem von einem "seriösen" Medium, schreit geradezu danach, kommentiert zu werden.
- Empörung über mangelnde Professionalität: Es schürt Wut und Enttäuschung darüber, dass ein vermeintlich professioneller Akteur so "schlampig" arbeitet. Das Vertrauen in die Sorgfalt des Mediums wird untergraben, aber paradoxerweise führt es zur Interaktion.
- Polarisierung durch Spaltung: Es gibt die Gruppe derer, die sich über den Fehler empören, und die Gruppe derer, die das Ganze als "nicht so schlimm" abtun oder die Empörung darüber lächerlich finden. Beide Seiten kommentieren und diskutieren, was die Interaktion unter dem Post ordentlich ankurbelt.
Das gezielte und wohldosierte Platzieren von Fehlern ist eine manipulative Methode, die bewusst die negativen Seiten des menschlichen Verhaltens anspricht – das Bedürfnis, Fehler zu korrigieren, sich über Missstände zu beklagen oder sich moralisch überlegen zu fühlen.
Diese Entwicklung sollte uns zu denken geben
Gerade etablierte Medienhäuser konnten sich bislang auf einen enormen Vertrauensvorschuss verlassen, auch wenn es auch in der Vergangenheit immer wieder mal zu Fehlentwicklungen und Manipulationen gekommen ist. Die "Hitlertagebücher" beim Stern oder der "Fall Relotius" beim Spiegel sollten jedem des Lesens fähigen Menschen noch in guter Erinnerung sein. Aber: Auch Journalsiten sind "nur" Leute wie du und ich, mit allen Irrungen und Wirrungen, die zum Menschsein nun einmal dazugehören. Insgesamt hat sich die deutsche Medienlandschaft jedoch ganz gut geschlagen, seit der Erfindung der sozialen Medien scheint mir da jedoch etwas zu kippen - und d iese Entwicklung ist extrem problematisch und schädlich:
- Erosion des Vertrauens: Wenn seriöse Medien sich solcher Manipulationen bedienen, untergraben sie ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen ihrer Leser. Dies ist besonders gefährlich in Zeiten von Desinformation und Fake News, da seriöse Medien eine entscheidende Rolle als Anker der Wahrheit spielen sollten.
- Flut von irrelevanten Kommentaren: Die Kommentarspalten füllen sich mit Diskussionen über Rechtschreibfehler oder allgemeine Empörung, anstatt über den eigentlichen Inhalt des Artikels. Das lenkt von der eigentlichen Debatte ab und erschwert einen konstruktiven Austausch.
- Abwärtsspirale der Qualität: Wenn plumpe Tricks mehr Erfolg versprechen als sorgfältiger Journalismus, besteht die Gefahr, dass die Qualität des Journalismus insgesamt leidet. Es entsteht ein Anreiz, mehr auf Effekthascherei als auf inhaltliche Tiefe zu setzen.
- Polarisierung und Fragmentierung: Ragebait fördert die Spaltung und das Gefühl der "Wir gegen die"-Mentalität. Es belohnt extreme Meinungen und trägt dazu bei, dass sich Menschen in ihren jeweiligen Echokammern weiter radikalisieren, anstatt Brücken zu bauen.
- Ethik des Journalismus: Der Kern des Journalismus sollte die informierte und ausgewogene Berichterstattung sein. Das bewusste Schüren von Wut und Empörung widerspricht fundamental diesen ethischen Prinzipien. Es ist eine Form der Manipulation, die den Leser nicht als informierten Bürger, sondern als reines "Klick-Objekt" betrachtet.
Die Tatsache, dass selbst "seriöse" Medien in die"Ragebait"-Falle tappen, um im Aufmerksamkeitswettbewerb zu bestehen, ist ein alarmierendes Zeichen. Langfristig schadet diese Strategie nicht nur der Glaubwürdigkeit der einzelnen Medien, sondern auch dem öffentlichen Diskurs und der Funktionsfähigkeit einer informierten Gesellschaft. Diese Entwicklung, kann man als halbwegs gebildeter Mensch nicht gutheißen und eine breite öffentliche Diskussion über die Verantwortung von Medien in der digitalen Ära ist längst überfällig.
Im Mittelalter wäre man wohl mit Äxten und Mistgabeln aufeinander losgegangen - heute reicht dafür die Kommentarspalte. Ragebait ist eine zynische, aber leider oft sehr effektive Strategie, um Aufmerksamkeit zu erregen und die "Engagement-Metriken" in die Höhe zu treiben. Es nutzt die menschliche Tendenz, auf extreme Emotionen zu reagieren, um die Algorithmen sozialer Medien zu manipulieren und letztlich finanzielle Gewinne durch Werbung zu erzielen. Es ist ein Teufelskreis, der leider auch zur Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft beitragen kann, da er bewusst auf Konflikt und Spaltung setzt.
03.06.2025
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