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Tim Berners-Lee warnt vor der KI-Bedrohung des werbefinanzierten Internets
In diesen Tagen ist es 35 Jahre her, dass Tim Berners-Lee - damals noch ohne "Sir" - einen formalen Vorschlag für ein Hypertextprojekt veröffentlicht hat. In dem Memo wurde ein „Netz von Informationsknoten“ und die Implementierung von sogenannten "Browsers" angeregt, wie wir alle wissen, ist daraus in verdammt kurzer Zeit ein weltumspannendes Netz geworden, das "World Wide Web", auch "WWW" genannt.
Damit hat der geniale Kopf hinter dem WWW die Menschheit mit einer Technologie beschenkt, die unseren Alltag, unsere Wirtschaft und unsere Kommunikation grundlegend verändert hat. Doch nun meldet sich Berners-Lee mit erhobenen Zeigefinger zu Wort - und mit einer düsteren Prognose: Künstliche Intelligenz (KI) stellt eine existenzielle Bedrohung für das werbefinanzierte "Open Web" dar und könnte dessen Geschäftsmodell zum Einsturz bringen.
Diese Warnung, die er in einem Interview mit Nilay Patel im Podcast Decoder äußerte und über die das Fachportal searchengineland.com berichtete, beschreibt ziemlich deutlich die aktuellen Sorgen der gesamten Marketing- und Content-Branche.
Das Fundament bröckelt: Der Tod des Klicks
Das Internet, wie wir es kennen, basiert auf einem einfachen Prinzip: Content-Ersteller stellen Informationen kostenlos zur Verfügung und finanzieren diesen Aufwand ggf. durch Werbeeinnahmen. Diese Einnahmen sind direkt an den unmittelbaren Traffic gekoppelt - an die Nutzer, die auf Links klicken, Suchmaschinen nutzen und letztendlich die Websites besuchen.
Genau hier sieht Berners-Lee das Problem:
„Ich mache mir Sorgen um die Infrastruktur des Webs, wenn es um den Datenfluss geht, der von Leuten erzeugt wird, die ihr Geld mit Werbung verdienen. Wenn niemand die Links tatsächlich verfolgt, wenn die Leute Suchmaschinen nicht mehr nutzen, ihre Websites nicht mehr besuchen, dann verlieren wir diesen Fluss der Werbeeinnahmen. Dieses ganze Modell bricht zusammen. Ich mache mir wirklich Sorgen darüber.“
Die neue Generation von generativen KI-Tools, die umfassende Antworten direkt in der Suchoberfläche oder in Chatbots liefern, ohne dass der Nutzer die Ursprungsquelle besuchen muss, saugt den Sauerstoff aus dem Ökosystem der Content-Ersteller. Die KI zieht den Wert ab, während die ad-unterstützten Websites - die eigentlichen Datenlieferanten - leer ausgehen.
Die Spaltung der Branche und die neue Macht der KI-Plattformen
In der Marketingbranche herrscht bereits Uneinigkeit: Während die einen glauben, es handele sich nur um eine weitere SEO-Anpassung, sehen die anderen eine nahe Zukunft, in der die Sichtbarkeit auf KI-Plattformen die traditionellen Rankings, Klicks und Website-Besuche ersetzen wird.
Sollte dieser Trend anhalten, könnten unabhängige Nachrichtenportale, Fachblogs und Nischen-Websites, deren Finanzierung auf Ad-Impressionen und Klicks basiert, ihre Geschäftsgrundlage verlieren. Übrig blieben nur die KI-Plattformen, die zwar den Nutzen aus den Daten ziehen, aber nicht mehr zur Finanzierung der Quellen beitragen.
Die zweite Welle des Semantic Web: Daten für AIs
Interessanterweise befasst sich Berners-Lee seit Jahrzehnten mit dem Konzept des Semantic Web - einem Web, das Maschinen ebenso leicht lesen können wie Menschen. Er sieht die aktuelle KI-Revolution als eine Art erfüllte Prophezeiung und gleichzeitig als neuen Risikofaktor:
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Das Semantic Web hat bereits in Form von Linked Open Data und durch die Auszeichnungssprache Schema.org Erfolg gehabt.
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Heute kommt eine neue Welle des Semantic Web durch die KI. Berners-Lee prognostiziert eine Ära, in der AIs das Semantic Web nutzen, um miteinander zu kommunizieren. Es entsteht ein Daten-Web, das von AIs generiert und vor allem von AIs genutzt wird – ein Szenario, das menschliche Nutzer und ihre Websites marginalisieren könnte.
Monopole und der Ruf nach einer neuen Architektur
Berners-Lee verband seine KI-Warnung mit seiner anhaltenden Sorge vor zentralisierten Monopolen im Web (sei es bei Browsern, Suchmaschinen oder sozialen Netzwerken). KI könnte diese Monopolisierung weiter verschärfen, da nur wenige, datenintensive Konzerne die Rechenleistung und die Modelle zur Beherrschung dieser neuen Ära besitzen.
Als mögliche Lösung für das Finanzierungsproblem brachte Berners-Lee die Idee von Micropayments (Kleinstzahlungen) oder einem Pay-per-Crawl-System ins Spiel. Man könnte die Web-Architektur so umgestalten, dass eine „Zahlung erforderlich“-Regel in offene Standards eingebaut wird – ein Konzept, das die W3C (World Wide Web Consortium) und das MIT in der Vergangenheit bereits untersucht haben. Ein entsprechender payment required Fehlercode (HTTP 402) existiert theoretisch.
Obwohl Berners-Lee nicht glaubt, dass die KI das Web zerstören wird, ist seine Botschaft klar: Wir müssen das Geschäftsmodell und die Architektur des Webs überdenken, bevor das Fundament unter der Last der KI-Ökonomie endgültig zusammenbricht.
Weckruf des WWW-Erfinders
Tim Berners-Lees Appell ist ein Weckruf an die gesamte Digitalbranche. Die Bedrohung durch KI ist real und zielt auf den Kern der Content-Finanzierung ab. Die Debatte, ob wir zu einem Web zurückkehren müssen, in dem Informationen nicht nur durch Werbung, sondern durch direkte, wenn auch winzige, Zahlungen finanziert werden, ist dringender denn je.
Die große Frage für uns alle, von Content-Erstellern über Publisher bis hin zu Marketern, lautet: Wie sichern wir die Vielfalt und die Finanzierung des Open Web in einer Zukunft, in der die KI die wichtigsten Vermittlerrolle zwischen Information und Nutzer einnimmt? Eine Antwort muss schnell gefunden werden, um zu verhindern, dass das dezentrale, offene Web zu einer geschlossenen Domäne weniger KI-Giganten verkommt.
Foto: Paul Clarke CC BY 2.0
13.11.2025
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