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Kaufrausch

Michael SchmidtVon Michael Schmidt

Wie wir alle aus unserer wilden Jugend wissen, hinterlässt jeder Rausch eine mehr oder minder massive Katerstimmung. Dies trifft zumindest auf alle oral eingeführten und inhalierten Drogen zu. Rausch-Neulinge sollten beim Kaufrausch im Internet hingegen beachten, dass die Katerstimmung - in der Regel verbunden mit einer fühlbar gesteigerten Aggression - schon während der Einkaufsphase einsetzt.

Dies wiederum liegt daran, dass viele durchforstete Webshop-Angebote völlig inakzeptabel sind oder sich die Bedienung einiger virtueller Kaufhallen als schlichtweg unmöglich herausstellt. Die Palette reicht von nicht aufrufbaren Warenkörben, 404er nach dem Klick auf den "Bestellung absenden"-Button oder gar komplett abstürzenden Feuerfüchsen während des Bestellvorgangs.
Man stelle sich Ähnliches mal im realen Leben vor: Klemmende Ladentüren, nicht funktionierende Kassen, fehlende Beleuchtung... kein Mensch würde tolerieren, was im World Wide Onlineshop gang und gäbe ist.

Ich kann mir die Frage an die Herren Shop-Betreiber nicht verkneifen: Wie generiert Ihr Umsatz über derart zusammengestümperte Online-Applikationen?

Aber fangen wir von vorne an. Es ist ja bald Weihnachten, und so habe ich beschlossen, meine inzwischen museumsreife Digitalkamera gegen ein aktuelles, professionelles Tool auszutauschen. Nicht das mir meine gute alte FinePix nicht immer treue Dienste geleistet hätte - aber jetzt muss einfach was Neues her.
Da sich zur Zeit die Kunden die Klinke in die Hand geben, habe ich einen durchgeplanten Tag und schlichtweg keine Zeit, mich durch die Münchner Innenstadt zu kämpfen, um das von mir favorisierte Modell käuflich zu erwerben.
Also setzt man sich am Abend in aller Gemütlichkeit nochmal vor die Kiste und ruft ein paar Preisvergleichsseiten auf - man möchte ja informiert sein.

Die Preise für meine Traumkamera unterscheiden sich bei den einzelnen Anbietern kaum, offenbar agieren alle an der unteren Margen-Schmerzgrenze. Warum bei einem Anbieter allerdings 14.00 Euro Versandkosten anfallen, beim nächsten - bei identischen Produktpreisen - nur 4.00 Euro, das muss mir mal einer erklären. Ganz offensichtlich wird versucht, über die Versandkosten eine halbwegs erträgliche Gewinnspanne einzufahren.
Die einsehbaren Bewertungen der einzelnen Anbieter geben dann auch einigen Aufschluss über einen völlig aus dem Ruder laufenden "Dienst am Kunden".

Zitate gefällig?

"Hatte am 1.10. aufgrund des günstigen Preises und dem Hinweis (auf Lager) ein JBL on Tour bestellt und sofort bezahlt. Auf Anfrage am 6.10. wann es denn kommt, war die Aussage, dass kein Geldeingang erfolgt sei. Auf Anfrage bei meiner Bank ist das Geld am 4.10. eingegangen! Dann habe ich trotz Nachfrage keine Antwort erhalten. Zweite Novemberwoche dann die Mitteilung, dass sie keine Ware geliefert bekommen. Geld wurde wieder gutgeschrieben. Fazit: Locken nur mit niedrigen Preisen; Service schlecht."
 
"Vor über einer Woche per Vorkasse eine Canon Powershot A720 IS bestellt, die sofort lieferbar sein sollte. Am Tag der Bestellung Rechnungsbetrag überwiesen. Muß also schon längst gebucht sein. Lieferung bis jetzt Fehlanzeige. Auf meine Nachfrage per Email vor 2 Tagen habe ich bis jetzt noch keine Antwort. Werde deshalb heute per Fax erneut anfragen. Service stelle ich mir anders vor." 
 
"Falsche Tasche zur Kamera geliefert, ich reklamiere schriftlich, weil trotz mehrerer Telefonversuche nur der AB. Irgendwann kommt eine Email. Ich schicke die Tasche originalverpackt zurück. Bis heute nix passiert und wieder keiner zu erreichen." 
 
"Kameraset von Fuji bestellt, Lieferung kam schnell, jedoch ohne XD-Card, auch kein Hinweis auf Rechnung bezüglich noch ausstehender Nachlieferung, Firma tel. nach unzähligen Versuchen nicht erreichbar, umfangreicher Mail-Verkehr, nachdem keine Reaktion erfolgte, war nur eine Intervention bei der Geschäftsleitung tw. erfolgreich, anstelle Fuji XD 1 GB kam eine Kingston SD 1GB, schlechte Alternative => Fazit: lieber ein paar Euros mehr und dafür die versprochene Leistung und vor allem Kundendienst."

Da lassen wir doch lieber die Finger von, der nächste Anbieter ist ja nur ein paar Pixel unterhalb. Selber Produktpreis, Versandkosten 5.90 Euro, prima. Den Shop schauen wir uns an. Für mein Kameramodell wird eine Lieferzeit von 3 -5 Wochen angekündigt. Da kann ich mir das Teil ja gleich selbst zusammenbauen - und tschüss!!! 

Kein Problem, der nächste virtuelle Fotoladen.
Als die Seite (trotz Hi-Speed DSL) nach 46 Sekunden (!) geladen ist, sehe ich eine halbwegs professionell anmutende Shopping-Mall. Jetzt erschließt sich mir auch die lange Ladezeit: Eine Seite Produktbeschreibung mit Bildern, 5 x weiterscrollen um alle möglichen Zusatzoptionen, Empfehlungen, Promopacks, technische Details und Kundenkritiken zu sehen. Muss man das alles auf eine Seite klatschen?
Egal, der Preis überzeugt, also ab in den Warenkorb. Gleich noch nach einer Kameratasche geschaut... nein, nehmen wir nicht, zu teuer. Wir wollen die Kamera darin verstauen und nicht in Paris flanieren gehen.

KaufrauschWo zum Teufel ist mein Warenkorb? Hallo? OK, scrollen wir einen halben Kilometer nach oben und siehe da, klitzeklein, genau zwischen "FAQ", "Lieferkosten", "Impressum" und "Bestellstatus online" ein hübscher kleiner Link mit einem hübschen, noch kleineren - um genau zu sein: Bei meiner Auflösung kaum zu sehenden - Warenkorb-Piktogramm.
Die "Lieferkosten" (die jetzt Versandkosten heissen) öffnen sich in einem PopUp, welches ich auch zu sehen bekomme, nachdem ich meinen Blocker abgeschaltet habe. In diesem PopUp kann ich aus zwei Links zwischen Standard- und Expresslieferkosten wählen, die Detailerklärungen dazu öffnen sich - hätten Sie's gedacht? - in einem weiteren PopUp. Dort stehen nun in einer endlosen Tabelle aufgelistet alle möglichen Lieferkosten (die jetzt Portokosten heissen), sortiert nach Gewicht - und zwar von 0 Gramm bis 30 Kilo. Liebe Shopbetreiber: Wen interessiert das? Ich hätte maximal die Lieferkosten für das von mir zu bestellende Produkt gebraucht.

Egal, wir wollen schnell zum Abschluß kommen, deshalb kaufe ich ja im Internet ein. Klick auf das Warenkorb-Icon. Ich staune nicht schlecht, als ich den "Warenkorb bestätigen" soll. Wo geht's hier bitte zur Kasse??? Ich klicke auf den "Warenkorb bestätigen" Link - ohne dass sich erkennbar irgendetwas geändert hätte. Auch der Ladebalken meines Browsers zeigt keine Anzeichen von Aktivität. Also nochmal, vielleicht hab ich ja daneben geklickt. Niente. Nix. Nitschewo. Also nochmal. Aaaaah, eine Reaktion. Aber nicht die Website sondern "Firebug" ist angesprungen und zeigt mir diverse "DOM-Errors" und dass ein Stylesheet nicht geladen werden konnte. Einige der 32(!) im Header der Seite geladenen JavaSkripten scheinen ausgestiegen zu sein oder meinen Browser nicht zu mögen.
Ich kann Firebug nicht schließen. Mein Browser ist komplett angestürzt - Kompliment, das hat bisher noch keiner geschafft. Ich glaube, in diesem Laden werde ich wohl keine Kamera kaufen. Ich würde ja gern - aber man lässt mich nicht. Der Kunde ist König, but the King has left the Building...

Aber wir geben nicht auf. Schnell den Online-Shop eines Anbieters aufgerufen, der sich physisch sogar in umnittelbarer lokaler Umgebung befindet - genaugenommen auf der anderen Straßenseite. Die Seite ist auch nicht besonders schnell. Klar, in einem sinnfreien IFRAME werden Riesenplakate im JPG-Format vorgeladen. Aaaah, da ist der Link zum Online-Shop. Klick! Es öffnet sich ein neues Browserfenster. Und wieder werden überdimensionale Werbeplakate - die ich aus dem Schaufenster des Betreibers kenne - vorgeladen. Nicht dass damit irgendeine Funktion verbunden wäre - einfach so.
Innerhalb eines TreeView-Menüs klicke ich mich durch diverse Rubriken und Kategorien und lande schließlich in einer recht ordentlichen tabellarischen Übersicht über alle Geräte eines Herstellers. Ein "grüner Punkt" suggeriert mir, dass das von mir gewünschte Modell verfügbar ist. Der Preis wäre hier um knapp 30 Euro teurer als bei anderen Anbietern, sei's drum, ich will kaufen, ich will Geld ausgeben!!!!
Es folgt der magische Klick auf das Warenkorb-Piktogramm... ein Ladebalken wird angezeigt... "Warenkorb wird gespeichert" (???) wird angezeigt... der Ladebalken verschwindet... der Hinweis, dass der Warenkorb gespeichert wird, verschwindet... und das war's. Ich sitze vor einer sehr ästhetischen grauen Seite ohne jeglichen Inhalt. Mein Browser sagt FERTIG. Ich habe auch FERTIG und langsam bekomme ich wirklich einen dicken Hals. Das ist eBusiness in Deutschland und mich wundert überhaupt nicht, dass die mittelständischen Shopbetreiber nach wie vor über bescheidene Umsätze jammern.

Um es vorweg zu nehmen: Ich möchte schnell, entspannt und sicher einkaufen. Deshalb habe ich meine neue Kamera - nach zwei weiteren, wenig erfreulichen Versuchen - letztlich im Laden von Jeff Bezos erstanden. Ohne Stress, ohne Nervereien, mit ein paar Mausklicks.

Und meine lieben Shopbetreiber: Wissen Sie, warum "amazon.com" der Platzhirsch ist und veritable Umsätze einfährt? Weil der virtuelle Shop schlichtweg funktioniert und mein Artikel nach 2 bis 3 unkomplizierten Mausklicks im Warenkorb liegt. Als registrierter Kunde brauche ich 2 weitere Klicks und ich habe meinen Artikel gekauft! ERLEDIGT! Und Jeff hat mich glücklich gemacht. Und Geld verdient. Und bei meiner nächsten Anschaffung wird er wieder Geld verdienen. Da mache ich vorher keine Experimente. Auch das ist eBusiness in Deutschland.

27.11.2009

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