Aktuelles
Dotcom Blase 2.0
von Michael Schmidt
Wenn man sich durch die Statements von Analysten und Investoren klickt, wird einem Verheissungsvolles suggeriert. Das Geld liegt quasi auf der Straße und unter dem Banner von "Web 2.0" braucht man es nur noch aufzusammeln. Ein Königreich für ein Geschäftsmodell. "User generated Content" heisst das Zauberwort schlechthin und viele der aktuellen euphorischen Aussagen erinnern an die unausgegorenen Utopien, das Börsenfieber und das böse Erwachen zur Jahrtausendwende.
Was ist Web 2.0? Tatsächlich tummeln sich tausende neuer Anwendungen und Portale im World Wide Web, von denen einige gigantische Nutzerzahlen vorweisen können. Auf Basis offener Web-Technologien werden Applikationen modelliert, die in vielen Fällen von den Usern wohlwollend aufgenommen und als nützlich, informativ oder wenigstens unterhaltsam empfunden werden.
Wenn man entsprechende Portale aber einmal aufbröselt und auf das Wesentliche reduziert, stellt man schnell fest, das sich hinter vielen der bunten Seiten mit dem "BETA"-Slogan selten nennenswerte Umsatzpotentiale verbergen und es ist abzusehen, dass die meisten der Geschäftsmodelle durch Sättigung oder fehlende Akzeptanz schlichtweg kollabieren werden.
"Web 2.0 ist nutzloses Blabla, das niemand erklären kann" so Tim Berners-Lee zum aktuellen Hype - der gute Mann ist immerhin Erfinder des "Web 1.0" und gilt als "Gutenberg" des Internets. Von ihm stammt der erste Browser und er entwickelte Basisinnovationen wie die HTML-Syntax.
Fakt ist, dass sich das Internet vom Dotcom-Crash anfang des Jahrtausends erholt hat. Webllogs, Wikis und "Social Networks" ("Friendster", "Orkut" und "Flickr") werden als Trends des neuen Webs präsentiert. Netzwerkportale wie "XING" haben aus innovativen Ideen, beeindruckender Technik und realem Nutzen längst den Sprung an die Börse geschafft.
Technologien wie Google Maps oder Panoramio schaffen sowohl für private als auch kommerzielle Nutzer einen wirklichen Mehrwert und sind auch für ungeübte Internetnutzer ohne Informatikstudium anzuwenden. Die Vernetzung unterschiedlichster Anwender und Plattformen zu neuartigen Anwendungen eröffnen durchaus interessante Möglichkeiten für die nahe Zukunft. Aber ist das wirklich so neu? So wahnsinnig fortschrittlich, dass es gleich dutzende neuer Buzzwords bedarf? Wirklich beeindruckend ist z.B. das Online-Lexikon Wikipedia, welches ausschließlich auf Beiträgen basiert, die ohne monetäre Gegenleistung von engagierten Nutzern eingestellt werden. Jedoch wurde Wikipedia bereits 2001 gestartet.
Die meisten der verwendeten Technologien waren bereits im "alten" Web gegenwärtig. AJAX, API, SVG und XML klingt zwar irre innovativ, letztlich existieren diese Technologien schon recht lange, wurden an aktuelle Bedürfnisse angepasst oder schlicht weiterentwickelt. Vieles was heutzutage als sexy AJAX-Applikation verkauft wird, wäre 1999 auf Basis von DHTML ebenso möglich gewesen und ist nur ein Aufguss alter Ideen, die lediglich etwas schicker designed daherkommen.
Meist sind die zur Verfügung stehenden Technologien sogar fortschrittlicher als die ewig hinterherhinkenden Browser - ältere Herrschaften erinnern sich vielleicht noch an den unseligen Browserkrieg zwischen Netscape und Microsoft.
Das Modell "MySpace" erinnert irgendwie an die Homepage-Plattform für DAUs, die früher von Geocities ins Netz gestellt wurde. Dass jetzt auch Videos und Musik eingebunden werden können liegt schlichtweg an Detailverbesserungen der Oberfläche und der dank DSL zur verfügung stehenden Bandbreite. Blogs? Im Westen nichts Neues. Mit seinem Online-Tagebuch hätte Matt Drudge 1997 beinahe Bill Clinton zu Fall gebracht, als er dessen Sex-Affäre mit Monica Lewinsky enthüllte. Die grandiose Weiterentwicklung besteht in der konsequenten Querverlinkung zwischen den Abermillionen von Blogs - einhergehend mit einer immensen Geschwindigkeit bei der Informationsverbreitung, die klassische Medien alt aussehen lässt.
Auf Basis der Verschlagwortung von Inhalten (Heutzutage "Tagging") hat Amazon schon vor Jahren für seine Kunden Kaufvorschläge ausgearbeitet.
Die Möglichkeit, dass jeder mit jedem redet, war bereits in Zeiten des Usenets gang und gäbe und wurde schon in den mittleren 90ern in Webforen ausgiebig praktiziert.
Wirklich nervend ist jedoch, dass sich die Qualität von Information und Kommunikation mit der Ära Web 2.0 nicht wirklich verbessert hat und damit keinen Schritt über die Neunziger hinausgekommen ist. Trotz aller Euphorie, trotz der gepriesenen Innovationen, trotz aller Technologiepirouetten müssen sich die User nach wie vor mit einer meist quälend langsamen Darstellung der Inhalte abfinden. Und nach wie vor muss sich der User mit einer unübersichtlichen Informationsflut herumärgern, die in den meisten Fällen nicht zu bewältigen ist.
Und was nützt denn ein wahnsinnig innovatives Navigationsmodell, wenn es die Besucher einer Seite mangels Kenntnissen, Erfahrungen oder fehlender technischer Voraussetzungen nicht bedienen können?
Die Propheten, die Geldgeber und die Handwerker des Web 2.0 haben ganz offensichtlich noch viele Hausaufgaben zu erledigen. Und letztlich werden sich - mit oder ohne Web 2.0 - bahnbrechende Innovationen durchsetzen und mit wirklich guten Ideen werden einige wirklich gute Macher wirklich gutes Geld verdienen. Der Rest wird sang- und klanglos verschwinden oder ein Nischendasein fristen. Aber auch das war schon immer so.
30.04.2008
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